„Noch nicht bereit, von diesem Team loszulassen“
Barmkes Julia Ogiermann spricht über den Moment, der ihre Laufbahn beendete, die harte Zeit danach und neue Ziele.
Jeder Sportler weiß: Ob Training oder Spiel – ein gewisses Verletzungsrisiko besteht immer, insbesondere bei Kontaktsportarten. In der Niedersachsenpokal-Partie gegen den TuS Bröckel traf es Julia Ogiermann jedoch besonders hart. In der 9. Minute hatte sie mit ihrem Treffer zum 1:0 noch den Weg für den am Ende deutlichen Sieg des TSV geebnet (10:0). Rund 20 Minuten danach folgte aber der bittere Moment. Ogiermann bekam den Ball etwa auf Höhe der Mittellinie, legte ihn sich ein Stück vor und war gerade im Begriff, die etwas hoppelnde Kugel auf die rechte Außenbahn weiter zu passen, als eine Gegenspielerin zur Grätsche ansetzte und Ogiermann mit gestrecktem Bein und voller Wucht am rechten Knie traf.
„Wer mich kennt, weiß, dass ich nicht grundlos zu Boden gehe und schreie“, sagt die Barmkerin. Die lange Behandlungspause, dass einige ihrer Mitspielerinnen mit den Tränen zu kämpfen hatten, dass sie sich später noch humpelnd aus der Kabine neben die Auswechselbank schleppte, um bis zum Abpfiff bei ihrem Team zu bleiben – alles, was danach an jenem 30. August passierte, habe sie irgendwie verdrängt. Im Gedächtnis blieben ihr aber „die 14 Tage danach bis zu meiner Operation, denn die haben mir wirklich das Herz zerrissen“, sagt Ogiermann und fügt entschuldigend an: „Und ich weiß, dass ich in dieser Zeit auch vielen vor den Kopf gestoßen habe.“
Die körperlichen Folgen waren das eine. Auf zumindest einen Teil der bitteren Diagnose war sie allerdings schon eingestellt: „Als ich 18 war, hatte ich schon mal einen Kreuzbandriss im rechten Knie. Ich wusste also, wie es sich anfühlt“, erklärt die Abwehrspielerin. Jedoch erlitt sie zudem einen Außenbandriss und einen extrem schmerzhaften Muskelbündelabriss. Die erforderliche umfassende Operation ließ Ogiermann keine andere Wahl, als ihre aktive Laufbahn zu beenden.
Diese beißende Gewissheit führte eben auch dazu, dass die folgenden Tage und Wochen mental an ihr nagten. Der Fußball war 25 Jahre ein ganz wesentlicher Teil ihres Lebens gewesen, ihre große Leidenschaft und ein wichtiger Ausgleich zum Job. Zu akzeptieren, dass ihr dies nun alles fehlen wird, fiel ihr sehr schwer. Noch schwerer machten es ihr die Fragen, die ihr zwangsläufig in den Kopf schossen: Warum ist das passiert? Warum mir? Warum jetzt? Denn eigentlich hatte die Schwester von Trainer Marcel Kirchhoff im Sommer letzten Jahres schon überlegt, mit dem Fußballspielen aufzuhören. „Aber Marcel hat es geschafft, dass ich so fit war wie nie zuvor“, erklärt sie. Auch die Aussicht darauf, mit ihrem Team zum Abschluss ihrer Karriere vielleicht sogar noch in die Regionalliga aufzusteigen, führte damals zum Entschluss, noch ein Jahr dranzuhängen.
Doch dann kam dieses unfreiwillige Ende… „Man wird dann einfach wütend, auch, weil ich nichts dafür konnte, sondern es fremdverschuldet war“, räumt die Barmkerin ein. „Auch, wenn ich ihr keine Absicht unterstelle: Die Grätsche war völlig unnötig in dieser Situation.“ Die Wut auf ihre Gegenspielerin war für Ogiermann nur eine Station auf der Suche nach Wegen, sich irgendwie mit ihrer Situation abzufinden. In diesen zutiefst deprimierenden Tagen verlor die 30-Jährige auch einen Teil von sich selbst: Sonst sei sie immer eine derjenigen gewesen, die in der Mannschaft für gute Stimmung und lustige Sprüche sorgten. „Wenn es aber im Training mal zu albern wurde, konnte ich auch auf den Tisch hauen“, erzählt sie. Im Sport und im Job sei sie es seit Jahren gewohnt, voranzugehen und ihr Team zu motivieren.
Nach ihrer Verletzung war das plötzlich anders. Bei den folgenden Spielen der TSV-Frauen „hätte ich ohne meine Eltern nicht mal die Kraft gehabt, auf den Sportplatz zu gehen. Es tat mir weh, den Mädels beim Fußballspielen zuzuschauen, und ich habe es emotional einfach nicht fertig gebracht, mich auf die Bank zu setzen“, blickt Ogiermann zurück. Auch der Zuspruch von Mitspielerinnen und Zuschauern konnte sie nicht trösten. „Ich weiß, dass es alle nur gut gemeint haben. Aber ich wusste auch, was Sache war, dass es mit dem Fußball vorbei war. Daran konnten aufmunternde Worte und Genesungswünsche nichts ändern, deshalb wollte ich eigentlich nur meine Ruhe haben.“
Rückblickend tue ihr dies sehr leid, aber der Frust über ihre Situation und darüber, ihrem Team nicht mehr aktiv helfen zu können, saß damals zu tief bei ihr. „Dabei haben sich die Mädels solche Mühe gegeben“, betont sie gerade mit Blick auf das Wochenende vor ihrer OP. Als Symbol des Zusammenhalts und mit besten Wünschen für den anstehenden Eingriff hatten die Barmkerinnen ein Video mit Fotos und Spielszenen von „Jule“ zusammengestellt und Shirts mit ihrer Rückennummer 16 anfertigen lassen, in denen sie zum Spiel gegen den HSC Hannover aufliefen. Doch selbst diese Geste konnte die 30-Jährige nicht so recht aus ihrem Tief holen, zumal für sie nach der OP der lange, harte Weg durch die Reha begann.
Was zunächst merkwürdig klingen mag: Letztlich brachte die zweite Corona-Welle für die sympathische Barmkerin etwas Nützliches mit sich. Zu wissen, dass sie keine Spiele verpasst, habe ihr dabei geholfen, Abstand zu gewinnen und das Geschehene zu verarbeiten – und zwar so weit, dass sie nun bereit war, eine neue Rolle beim TSV zu übernehmen: Die frühere Kapitänin rückt in den Trainerstab auf.
„Meine aktive Laufbahn musste ich loslassen, ich bin aber noch nicht bereit, vom Fußball generell und von diesem Team loszulassen“, sagt Ogiermann und klingt dabei wieder kämpferisch. Ihr sei bewusst, dass ihre neue Funktion kein gleichwertiger Ersatz dafür sein wird, was sie über all die Jahre als ein Herzstück der Mannschaft erlebt hat. „Und es wird mir noch mal wehtun, wenn ich die ersten Spiele von der Bank aus verfolge. Aber ich möchte mich mit dem, was das Team sonst an mir geschätzt hat, einbringen: motivieren und in angespannten Momenten für etwas Lockerheit sorgen.“
Die Genesung ihres Knies schritt ebenfalls gut voran, sodass sie nun im Laufen wieder einen kleinen Ausgleich findet. Jüngst wagte sie sich schon an Langstrecken – „das hat mal mehr, mal weniger gut funktioniert“, schildert Ogiermann grinsend. Doch wer 25 Jahre seines Lebens dem Sport gewidmet hat, kann nicht ganz ohne Ehrgeiz: „Ich muss mir immer neue Ziele setzen, schon allein als täglichen Antrieb. Deshalb werde ich sicherlich irgendwann mal an einem Halbmarathon teilnehmen.“ Um den zu bewältigen braucht es Motivation und mentale Stärke – und es wird alle, die sie kennen, freuen zu sehen, dass Julia Ogiermann fast acht Monate, nachdem ihre sportliche Welt von jetzt auf gleich auf den Kopf gestellt wurde, beides wiedergefunden hat.
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Veröffentlichung
Mo, 19. April 2021
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„Noch nicht bereit, von diesem Team loszulassen“
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